
Kuss & Schokolade
Kuss & Schokolade
„Alter, was zur Hölle machst du denn da?“, schrie Tim und verzog angewidert das Gesicht. Lucy fuhr herum. „Kannst du nicht anklopfen?“ kreischte sie mit hochrotem Kopf. „Könnte ich, aber dann wäre mir ja deine Freakshow entgangen und…“ Lucy warf eine Tempobox nach ihm. „Verpiss dich du Arsch!“ Genervt knallte sie ihre Zimmertür zu. Am liebsten wäre sie vor Scham im Boden versunken. Ausgerechnet jetzt hatte er reinkommen müssen. Wer hatte sowas wie Brüder überhaupt erfunden? Wieso nur konnte sie nicht einfach ein Einzelkind sein? So wie ihre Freundin Sina? Bestimmt würde dieser Idiot das eben Gesehene gleich direkt am Frühstückstisch zum Besten geben. Entnervt schaute Lucy ihr Spiegelbild an und seufzte. Es wäre das Beste, nicht runter zu gehen. Vielleicht sollte sie einfach gar nicht mehr aus ihrem Zimmer gehen. Nie wieder. „Lucy, Frühstück!“ ertönte da auch schon die Stimme ihrer Mutter von unten. Klar, es war Sonntag. Lucy würde keine Chance haben, sich vor dem „heiligen“ Sonntags-Frühstück der Familie Wellner zu drücken. Nichts war ihrer Mutter so wichtig, wie dieses verkackte Sonntags-Ritual. Da es also keine Chance auf Entkommen gab, straffte sie die Schultern, warf einen letzten Blick in ihren Standspiegel, der ihr kurz zuvor als „Sperling Partner“ diente und stapfte aus dem Zimmer.
Tim saß bereits am Esszimmer Tisch und grinste widerlich breit vor sich hin. Lucy wusste nur zu genau, was jetzt kommen würde. Innerlich machte sie sich bereit. Sie war diesmal gewappnet. „Und ihr zwei, was habt ihr heute Schönes vor?“, trällerte Mama, als sie den Orangensaft in die Tischmitte stellte. Jetzt kommt’s, dachte Lucy. „Naja, ich, ich werde mit Thorben und Finn zum See gehen und du, Lucy? Was hast du denn so vor?“, sagte Tim mit teuflischem Grinsen an seine Schwester gewandt. „Vielleicht deinen Spiegel putzen?“, prustete er los. Irina Wellner blickte irritiert drein. „Warum sollte Lucy denn ihren Spiegel putzen?“, wollte sie sogleich wissen. Eigentor, dachte Lucy. „Weil Tim ihn mit Kunstblut eingeschmiert hat“, rief Lucy, noch bevor irgendjemand am Tisch etwas sagen konnte. Papa Wellner lugte hinter seiner Zeitung hervor. „Oh man Tim, was soll so ein Mist? Bist du inzwischen nicht zu alt, um deiner Schwester solch blöde Streiche zu spielen?, fragte er trocken und schüttelte den Kopf. „Ich, ich habe ihren Spiegel nicht mit… sie, sie, also Lucy hat…“ Irina rollte mit den Augen und unterbrach ihn wirsch „Deine Lügen helfen dir jetzt auch nicht weiter. Du kannst also, bevor du zum See fährst, einen Lappen aus der Kammer holen und den Spiegel deiner Schwester gründlich putzen“ Tim schnaubte „Aber, aber ich…“ Thomas Wellner hob erneut seinen Kopf „Kein ABER! Du machst die Schweinerei weg oder es gibt für dich heute kein See. PUNKT“, sagte er streng. Nun war es an Lucy schelmisch in sich hinein zu grinsen. Nur gut, dass ihre Eltern somit nichts von ihrer peinlichen Kuss-Übung am Spiegel erfahren würden. Eines allerdings war auch klar, Lucy würde nie mehr auf ihre Freundin Sina hören, die ihr das Ganze mit ihrem schwachsinnigen Tipp quasi eingebrockt hatte. Sina meinte nämlich, dass man vor dem ersten Kuss unbedingt üben müsse und ein Spiegel würde sich dafür hervorragend eignen. Ihre beste Freundin hatte vergangenes Wochenende nämlich selbst ihren allerersten Kuss bekommen und schwärmte Lucy seither ständig davon vor. „Lucy, stell dir vor, sein Kuss hat nach Schokolade geschmeckt. Nach Schokolade, ist das nicht unglaublich? Es war einfach sooo cool. Leo meinte sogar, dass ich richtig gut küssen könne und man gar nicht merken würde, dass es mein erster Kuss sei. Meinem Spiegel sei Dank.“ Das hatte sie mindestens hundertmal erzählt seit letzter Woche.
Lucy war zugegebenermaßen etwas neidisch auf Sina. Sie wurde noch nie geküsst. Weder mit Schokoladengeschmack, noch ohne.
Daher hatte Lucy heute Morgen nach dem Aufstehen etwas Lippenstift aufgetragen und als sie gerade voller Inbrunst dabei war mit ihrem Spiegelbild zu knutschen, kam ihr blöder Bruder rein… Nun hatte er die Quittung dafür. Es würde ihn ne Weile beschäftigen, den schmierigen Lippenstift vom Spiegel zu bekommen und weder Mama noch Papa würden ihm jetzt noch glauben. Nächstes Mal würde er vielleicht klopfen… und sie, sie würde nächstes Mal nicht ihren Spiegel küssen, sondern Moritz. Lucy lächelte…