
Brief – Verrat
Brief – Verrat
Mir stockte der Atem. Das durfte nicht sein. Es musste eine Erklärung dafür geben, redete ich mir immer und immer wieder ein… Wie lang stand ich schon so da? Keine Ahnung. Minuten, Stunden? Meine Knöchel waren weiß angelaufen. So fest umklammerte ich das Papier in meinen Händen. So als hielte ich mich daran fest.
22 Jahre. Seit 22 Jahren waren wir nun ein Paar. Ein Paar? Ach was, wir waren weit mehr als das. Max war mein Partner, mein Freund, mein berühmter Fels. Er war mein Verbündeter. „Max & Thea gegen den Rest der Welt.“ - wie oft hatten wir das gesagt… und nun? Nun stand ich hier. Unser Nesthäkchen war grad letzte Woche ausgezogen. „Mama, das ist die Chance“, hatte Henry gesagt, als er mir mit strahlenden Augen von dem Angebot in Silicon Valley erzählte. Max und ich waren uns einig. Einig, wie fast immer in den 22 Jahren. Henry war also weg. Clara war bereits vor 1,5 Jahren ausgezogen. Nur Max und ich waren jetzt also noch übrig. Denn auch Pollox, unser treuer Bernhardiner, war im letzten Jahr seine letzte Reise angetreten… Es war schwer, so schwer, aber Max war da. Er hielt mich, er tröstete mich. Nur allzu gut wusste er, wie sehr mich dieser Verlust schmerzte. So schmiedeten wir Pläne. Diese Pläne erhellten meine Stimmung. Wir würden nun endlich all die Dinge tun, auf die wir die letzten Jahre dem alten und kranken Pollox zu Liebe verzichten hatten.
Was hatten wir nicht alles vor? Reisen wollten wir. Endlich die Wohnmobil-Tour durch Irland… Den langersehnten Hausboot-Tripp… Seit Jahren schoben wir all das vor uns her. Und nun das!
Ich spürte, wie mir eine Träne über die Wange lief. Tonnenschwer tropfte sie auf das Blatt Papier in meinen Händen. Direkt auf dem Wort „Geliebter“ breitete sie sich aus und verschmierte die Tinte.
Mein lautes Schniefen machte es mir unmöglich die Haustür zu hören, die hinter mir geöffnet wurde. „Thea, Liebling, was tust du da?“ Die Worte erschreckten mich fast zu Tode. Dann spürte ich seine Hand auf meinem Rücken. Max! Der Brief in meinen Händen glitt zu Boden. Ich drehte mich um. Tränen rannen über meine Wangen. Wie Sturzbäche. Max erblickte den Brief, kniff für einen Bruchteil von Sekunden die Augen zusammen und da wusste ich es. Es war wahr. Alles, was ich soeben in diesem Brief gelesen hatte, entsprach der Wahrheit. Ich atmete nicht. Es war, als hätte jemand die Welt um mich herum ausgeknipst. Max ließ den Kopf sinken. „Ich, ich, ich wollte es längst …“ Ich riss die Augen auf. Zurück im Hier und Jetzt.„Nein!“, schrie ich. „Sprich nicht weiter.“
Ich fühlte mich verraten. Verraten von der Welt. Verraten von Max. Dieser Brief, der nun zwischen uns am Boden lag, hatte auf einen Schlag alles verändert. Max & Thea waren Geschichte. Womöglich hatte es sie nie wirklich gegeben. Zumindest nicht so, wie ich sie sah.